Glaßner (Christine), Haidinger (Alois). Die Anfänge der Melker Bibliothek. Neue Erkenntnisse zu Handschriften und Fragmenten aus der Zeit vor 1200. Melk 1996.

Rezension für Scriptorium von Felix Heinzer, 3.9.1996


Diese im Rahmen einer Ausstellung anläßlich der Jubiläumsfeier "1000 Jahre Ostarrichi" erschienene Veröffentlichung ist kein Ausstellungskatalog im strengen Sinn, sondern ein florilegartiger Begleitband, der die Melker Bibliotheks- und Skriptoriumsgeschichte bis um 1200 schlaglichtartig beleuchtet. Im Hintergrund des Buchs stehen mehrere Projekte, die in den letzten Jahren der Erschließung der Melker Handschriften gewidmet waren: der derzeit im Druck befindliche "Katalog der Melker Handschriften" (gefördert von der Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters der Österreichischen Akademie) und die vom Stift selbst finanzierte Bestandsaufnahme der "Fragmente in der Melker Stiftsbibliothek" - beide von Christine Glaßner - und als Spezialuntersuchungen die 1990 abgeschlossene (unpublizierte) Dissertation von E. Höchtl über die adiastematisch notierten Fragmente sowie die in Arbeit befindliche Monographie über den Buchschmuck der romanischen Melker Handschriften von Alois Haidinger.

Die einzelnen Kapitel sind entsprechend der Konzeption und Zielrichtung der Publikation von durchaus unterschiedlicher Gewichtung und Länge. Teilweise gelten sie größeren Themenkomplexen (Kap. 1: Die Melker Bibliothek von den Anfängen bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, Kap. 2: Älteste Fragmente und Handschriften, Kap. 3. Benediktusregeln und Mönchsgewohnheiten, Kap. 4: Handschriften des 12. Jahrhunderts mit Schreibernennungen, Kap. 10: Der Melker "Lektionar-Schreiber" des 12. Jahrhunderts, Kap. 11: Der Melker "Kalendar-Schreiber" des 12. Jahrhunderts, Kap. 12: Melker Kalendarien des 12. Jahrhunderts), teilweise aber auch einzelnen, detailliert vorgestellten Handschriften (Kap. 5: Aachener Regeln für Kanoniker, Cod. 702, Kap. 6: Beda Venerabilis. Sternbilderkatalog, Cod. 412, Kap. 7: Melker Annalenhandschrift, Cod. 391, Kap. 8: Pontifikale, Cod. 591, Kap. 9: Missale aus Kremsmünster, Cod. 1891). Der kühne Spagat zwischen einer für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Ausstellungspublikation und einem wissenschaftlichen Sammelband, der die Einleitungen der angekündigten Katalogbände entlastet bzw. ausschnittweise vorwegnimmt, erscheint geglückt - nicht zuletzt dank der aufwendigen Bebilderung, die den Argumentationsgang des Texts in vielen Fällen in hilfreicher Weise verdeutlicht und visuell nachvollziehen läßt.

Wie anregend der schöne Band ist, vermögen die nachstehenden, durchaus unsystematischen Einzelbeobachtungen und Anmerkungen vielleicht ein wenig anzudeuten:

  1. Die Präsentation der Consuetudines- und Ordinarius-Fragmente in Kapitel 3 verdeutlicht einmal mehr die schon von Willibrord Neumüller (zuletzt in CCM VII/1, 324-328) betonte Verschmelzung unterschiedlicher Reformströme in Melk während des 11. und 12. Jahrhunderts: Lothrinigische Impulse (Gorze) scheinen ebenso eine Rolle gespielt zu haben wie Texte aus dem Umkreis von Fruttuaria (bzw. St. Blasien sowie Göttweig und Lambach) und die sog. junggorzische Tradition (S. 56f.). Auffallenderweise wird der (cluniazensisch-)hirsauische Einfluß, der über Admont, das zu Beginn des 12. Jahrhunderts in der Person Engelschalks einen bedeutenden Abt stellte (1116-1121), nach Melk eingedrungen sein dürfte, nirgends angesprochen. Er ist jedoch unmittelbar abzulesen an dem S.61 (Abb. 37) gezeigten Consuetudines-Fragment (Fragm. mus. 1AB, 4r): Dieses zeigt in der zweiten Spalte den (hier unidentifiziert gebliebenen) Anfang des bekannten Abschnitts über die Festgrade Quaedam sunt festivitates..., der aus dem 9. Kapitel des ersten Buchs von Ulrichs Consuetudines Cluniacense (PL 149, 654-656) ohne nennenswerte Veränderungen in den Hirsauer Liber Ordinarius übernommen wurde und diesen in den erhaltenen Handschriften jeweils eröffnet (s. meinen Beitrag in Revue Bénédictine 102, 1992, S. 309-347, hier bes. S. 321 und 336). Ob hier der Rest eines weiteren Textzeugen für den Ordinarius des Schwarzwälder Reformklosters vorliegt, läßt sich angesichts des fragmentarischen Charakters der Melker Überlieferung natürlich nicht sagen. Denkbar wäre auch, daß hier nur dieser Abschnitt, der offenbar ein gewisses Eigenleben führen konnte, enthalten war, wie etwa in der Handschrift Kremsmünster 99a, wo er im Kontext der Konstitutionen Wilhelms von Hirsau überliefert ist (ebd. 339-340). Hirsauischen Einfluß signalisiert im übrigen wohl auch der Oster-Tropus Postquam factus homo (vgl. Andreas Haug, Ein 'Hirsauer' Tropus, in: Revue Bénédictine 104, 1994, S. 328-345, und ders., Troparia Tardiva, Kassel u.a. 1995, S. 9) im Melker Graduale Cod. 109 (Haug, Troparia Tardiva, S. 49, Nr. 45), das in der vorliegenden Publikation (S. 56f.) ebenfalls kurz erwähnt wird.

  2. Ein dankenswertes Extra ist die Konkordanz der Melker Kalendarien (S. 118-121). Sie gestattet u.a. auch die Überprüfung eines unter "Melker Verdacht" stehenden Codex, nämlich des Graduale-Sakramentar in Udine (Biblioteca Arcivescovile, Ms. 78; vgl. dazu C. Scalon, La Biblioteca Arcivescovile di Udine, Padova 1979, S. 147f., der die Handschrift nach Weingarten lokalisieren möchte). Der Kalendarvergleich, soweit er aus den Angaben Scalons zu leisten ist, verstärkt die Melker Hypothese. Im Nobis quoque peccatoribus des Kanons dürfte kaum Kolumban genannt sein (so Scalon, a.a.O.), sondern Cholomann, was ein weiteres, starkes Indiz für Melker Ursprung darstellen würde. Dieses Detail wäre genauso zu überprüfen wie Schrift und Buchschmuck der Udineser Handschrift, um möglicherweise in der Tat ein weiteres Produkt für das romanische Skriptorium Melks gewinnen zu können.

  3. Eine interessante Entdeckung ist die Identifizierung von Cod. 702 aus dem 11. Jahrhundert als Textzeuge der Institutiones Aquisgranenses von 816 (S. 66-68), der als mögliches Beweisstück für die bisher historisch nur schwach gestützte These der Existenz eines um 985 vom Markgrafen Leopold I. in seiner Residenz Melk gegründeten Kanonikerstifts - als Vorgängereinrichtung der Benediktinerabtei - vorgestellt wird.

    Allerdings sind, wenn ich recht sehe, die Straßburger Akzente deutlich stärker zu setzen, als dies hier geschieht: Die Vermutung, der Eintrag Ordinatio Werinharii episcopi zum 4. Mai (S. 67f. mit Abb. 41) könnte sich auf den bedeutenden Straßburger Bischof Werner I. beziehen, ist zur Gewißheit zu erheben (vgl. etwa aus den Regesten der Straßburger Bischöfe, Bd. 1, Insbruck 1908, Nr. 216). Auch die übrigen im Kalendar nachgetragenen, unidentifiziert gebliebenen Personen (S. 68) lassen sich allesamt mit dem Straßburger Münster in Verbindung bringen: Magister Harpertus (zum 1. Februar) ist der von 1143-1156 nachweisbare Straßburger Scholaster dieses Namens (s. W. Wiegand, Das Melker Seelbuch der Straßburger Kirche, in: Zeitschr. f. Gesch. f. d. Oberrheins N.F. 3, 1888, S. 86), zu Henricus archidiaconus et cancellarius (zum 28. März) s. ebenfalls Wiegand, a.a.O., S. 92 (dort zum 27. März), und für den auf die Stiftung des Schultheißen Rudolf bezüglichen Nachtrag aus dem frühen 13. Jahrhundert (S. 68 mit Anm. 211) findet sich ebenfalls das Entsprechende bei Wiegand (S. 95f., zum 30. April: obiit Rudolfus scultetus, qui dedit fratribus domum lapideam inter judeos...). Die 1v nachgetragenen Namenslisten (S. 68 mit Abb. 44; statt Wobograt lies Wolverat, wohl der 1105 belegte Domdekan) beziehen sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf das Straßburger Domkapitel der Zeit um 1100, wie ein Vergleich etwa mit den Nr. 347, 354, 376 und 397 der Straßburger Regesten zeigt. Es wäre dann auch zu überlegen, ob hinter dem 5r als Donator(?) genannten Hartvingus nicht der 1089 bezeugte Domdekan Hartwig (Regesten, Nr. 341) stehen könnte.

    An der zeitweiligen Benutzung der Handschrift am Straßburger Münster kann jedenfalls keinerlei Zweifel bestehen, ja es fragt sich sogar, ob nicht von Anfang an Straßburger Bestimmung der Handschrift oder doch zumindest des Kalendars anzunehmen ist, da dieses, wie ein Vergleich mit hochmittelalterlichen Straßburger Kalendaren zeigt (vgl. M. Barth, in: Archiv f. elsäss. Kirchengesch. 3, 1928, S. 1-21), fraglos straßburgisch und nicht triererisch sein dürfte (vgl. im übrigen auch den erwähnten, von der Anlagehand stammenden Werner-Eintrag).

    Wenn man berücksichtigt, daß Wilhelm Wiegand für seine Nekrologedition eine Handschrift des 13. Jahrhunderts herangezogen hat, die sich zeitweilig in der Melker Bibliothek befand (früher Melk, Cod. 957, seit 1937 als Ms. 91 in der Bibliothèque Humaniste de Séléstat, s. A.M. Burg, in: Archives de l'Eglise d'Alsace 38, 1975, S. 39), und daß in Melk eine weitere Brauchtext-Handschrift des Straßburger Münsters liegt, nämlich das sog. Directorium chori von Fritsche Closener (Melk, Cod. 966 [früher 585]; s. Burg in: Archives de l'Eglise d'Alsace 33, 1969, S. 21, sowie Verfasserlex., 2. Aufl., Bd. 4, 1983, Sp. 1234), so ist zu fragen, ob nicht ein Zusammenhang bezüglich Besitzgeschichte und Itinerar dieser drei nach Inhalt und Herkunft eng verwandten Handschriften besteht. Mit anderen Worten: es ist sehr wahrscheinlich, daß auch Cod. 702 mit den andern beiden Straßburger Handschriften erst sehr spät, nämlich frühestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts (zur Frage des Zeitpunkts s. W. Wiegand in Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins N.F. 2, 1887, S. 100, sowie Burg 1969, S. 21), nach Melk gelangte. In 702 "die Regelhandschrift der Melker Kanoniker zu sehen" (S. 68), wäre dann nicht mehr möglich, d.h. der Codex entfiele als Beweisstück für die Frage nach der vorbenediktinischen Situation Melks. Die im Zusammenhang mit der Handschrift getroffene Feststellung, "daß die Erforschung der Bibliotheksgeschichte auch einen Beitrag zur Hausgeschichte leisten kann" (S. 12), erfährt dadurch freilich keine Einschränkung, sondern ist vielmehr nachdrücklich auszuweiten auf Glaßners und Haidingers Buch als ganzes.

Felix Heinzer, 3.9.1996


  Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters